Schon beim letzten Schritt meiner Flugbuchung wusste ich, dass diese Reise ein wenig anders verlaufen wird. Wo ich sonst in anderen Städten, Ländern oder Kontinenten unterwegs bin, war ich auch jedes Mal alleine, aber von geschäftlicher Natur aus. Es war das erste Mal, dass ich mich für einen solch einsamen Trip entschieden habe. Es war der 15. November 2019 und vor mir lagen mehr als drei Spielfilmlängen, eingesperrt in einer Boeing 777-200, zusammen mit 338 Passagieren, vier Piloten und acht Flugbegleitern. Zuhause warteten derweilen ein Hund, der sich gerade von der etwas zu frühen Gassirunde erholte, zwei Kinder, die beide essen als ihr größtes Hobby bezeichnen würden, und meine Frau, die hoffte, dass meine kleine Reise mit immer schneller vergehenden Stunden ausgestattet würde.
„For you, Sir? Beef or Chicken?”
Weder noch. Entscheidungen sind in einem Langstreckenflug die Haupttätigkeit jedes Fluggastes. Welche Filme schaue ich mir an? Lese ich das Buch, das ich mir extra über mehrere Tage auserwählt habe, oder versuch ich krampfhaft, mich mit sinnlosen Dingen zu beschäftigen, um einen bröckeligen Smalltalk mit meinen Sitznachbarn zu vermeiden. Warum ich mich nach zwei Jahren meiner New York-Abstinenz wieder für eine Rückkehr entschieden habe, weiß ich gar nicht mehr. Die Familie zuhause gelassen und nur den eigenen Schritten folgen, das muss es gewesen sein, oder vielleicht mal wieder ohne Hundeleine um den Brustkorb gefesselt, um dann mit längeren Gedankengängen von A nach B zu denken, und das mal für durchgehende 15 Minuten. Wahrscheinlich war es mehr die Sehnsucht nach einem ständigen Fortschritt als die nach einer Stadt, die uns allen mehr als bekannt ist, auch wenn man sie noch nie besucht hat.
Das Essen in Flugzeugen stimmt einen jedes Mal, schon beim ersten Blick auf das geöffnete Alu-Paket, auf die kommenden Situationen ein. Unterm Strich muss man nämlich anpassungsfähig sein. Reisen ist, auf das verzichten müssen, was einem selber die entspanntesten Minuten bereiten kann. Natürlich bringen die ersten Stunden genau solche Gefühle hervor, aber spätestens dann, wenn das kalte, unbekannte Klima durch den Wintermantel bis auf die Knochen weht oder die Schultern von den Trägern des doch so wohl überlegten gepackten Rucksacks schon rote und brennende Markierungen auf der Haut hinterlassen haben, dann ist auch hier der Moment gekommen, dass man sich auf die Rückreise freut, aber dazu später mehr.
Der erste, wenn auch eigentlich zweite Blick auf die Skyline ist mehr als magisch. Es war eine Mittagssonne und das Wetter sorgte gerade für einen Wolkenbruch in den 15 Minuten meiner Landung. Nebel stand zwischen den Wolkenkratzern vom Rockefeller Center bis hin zum One World Trade Center.
„You see that House Area over there?”
Meinte mein Sitzreihennachbar, während ich die Skyline von Manhattan anstarrte. Es war fast Thanksgiving und der mir gleichaltrig wirkende Mann mit pinken Kopfhörerkabeln und extrem gepflegtem Äußeren gab mir in einem kurzen Gespräch zu verstehen, dass er hier aufgewachsen ist. Sofort musste ich einen Vergleich zwischen uns beiden ziehen. Er war auf dem Rückweg. Ich nicht. Meine Reise startete nun endlich, seine endete. Meine Beine warteten seit acht Stunden ungeduldig und brauchten endlos wirkende Straßen unter sich. Und außerdem hatte ich erst 2.396 Schritte.
Dass man sich in einem anderen Land aufhält, weiß man natürlich dadurch, dass man gerade tausende Kilometer in einem Kondensstreifen erzeugenden Flugzeug gesessen hat. Man erkennt es aber auch daran, dass alles, was man nun um sich sieht, anders riecht oder andere Farbpaletten benutzt. Ein Taxi zum Beispiel gibt es überall auf der Welt, in jedem Land mit einem öffentlichen Personennahverkehr, und überall sieht es anders aus. Das berühmte New York-Taxi-Gelb strahlt aus einer CMYK-Kombination mit einem 76 % Gelb-Anteil gemischt mit einem 9 % Magenta-Anteil. Dadurch wirkt es so warm-gelb. Ich bestellte mir ein Uber zum Hotel und es kam ein schwarzer 1994 Lincoln Continental.
„What’s your favorite soccer team?”
Ich gab mich als deutscher Tourist und wurde mit der zweiten üblichen Smalltalk-Frage gesegnet. Dass mein Uber-Fahrer mit mehr als 8.000 zufriedenen Kundenbewertung ein größerer Bayern München-Fan ist, als ich es jemals sein werde, und ich noch zusätzlich mein allgemeines Desinteresse am Sport Fußball verdeutlichte, gab dem Rest unserer Fahrt eine kalte und ausharrende Stimmung. Um ehrlich zu sein war ich froh darüber. Mir war gerade nicht nach reden. Das Auto wohlig warm geheizt und die Beinfreiheit des Lincolns grenzten an Luxus, ich brauchte gerade keinen Dialog, um glücklicher zu werden. Es muss eiskalte Luft durch die ehemalige Hauptstadt der USA geweht haben. Straßenschilder, Ampeln, Container, parkende Autos, die seit letzter Nacht nicht mehr bewegt wurden, hatten eine dünne Frostschicht auf sich liegen.
120 Broadway – ich stieg aus dem Auto. Ich habe meinen Zielpunkt 800 m vor mein Hotel gelegt. Möchte die Atmosphäre dieser Weltstadt, die in meiner Erinnerung fast wie eine Wolkenstadt aus Gold, wo überall Burger von der dunklen Atmosphärendecke fallen und Springbrunnen mit Vanille Milkshake gefüllt sind, hängen geblieben ist, jetzt schon ein wenig genießen. Eine Sekunde später ebbte meine schier endlose Euphorie ab, aber ohne auch nur negativ behaftet zu wirken. Mir wurde mit einer gesunden Portion Realismus klar, dass ich, nach über 50 Stunden in dieser Stadt – von denen ich maximal 15 Stunden schlafen möchte, macht 35 Stunden – auch von diesem kalten Wind, der mir gerade wie ein Brett mit schiefen Nägeln in das Gesicht knallte, einfach genug haben werde.
„You’re staying for two nights, right?”
Man kann die Tonalität dieser Frage der Rezeptionistin mit den treffendsten Adjektiven nicht annähernd beschreiben. Das einzige Mal, dass sie auch nur in die Nähe meiner Augen geblickt hatte, war, als ihre Augen meine linke Hand anvisierten, um die genaue Position meiner Kreditkarte an ihr Gehirn zu übertragen, um gelassen, aber geübt nach ihr greifen zu können. Froh darüber, mein müdes Gesicht nicht mit unnötig fröhlichen und nicht ernst gemeinten Lächeleinheiten zu belasten und dabei kein schlechtes Gewissen zu haben, nahm ich meine Zimmerkarte entgegen, machte kehrt und peilte die Fahrstühle an. War das vielleicht ein professionelles Verhalten der Rezeptionistin? Vielleicht hatte sie blitzschnell meine momentane Stimmung erkannt und mir diese unnötigen Phrasen erspart? Wohl eher nicht. Das Hotel war das Billigste über ein Hotel-Vergleichsportal. Rege Freundlichkeit beim Check-in gibt es erst ab 140 $ pro Nacht.
Mit einem für mich doch ungewöhnlich hohen Akkustand von meinem iPhone verließ ich mein Hotelzimmer auf der 36. Etage und wartete auf einen Fahrstuhl. Meine Fotokamera und mein Magen waren auf ihre ganz unterschiedliche Art extrem hungrig. Dass ich mir gerade, im nahegelegenen Westfield World Trade Center, ein neues Gewicht aus winzig kleinen, elektrischen Bauteilen für mein linkes Handgelenk gekauft hatte, ist nicht irrelevant, aber braucht auch keine weiteren Zeilen mehr.
Eine ausgezeichnete Idee war es, noch einen extra dicken Pullover in mein Handgepäck zu stopfen und diesen als extra Schicht über T-Shirt, Sweatshirt und unter den Mantel zu ziehen. Wenn die Müdigkeit so richtig einsetzt, wird auch das nicht mehr wohlig warmhalten, aber bis dahin war es eine ausgezeichnete Idee meiner Frau.
Broadway bis zur Canal Street folgen, dann links Richtung Hudson River abbiegen, bis an der 6th Avenue vorbei und wieder rechts in die Varick Street auf direktem Weg zu dem langersehnten, besten Burger der Westküste. Arme Leute lagen am Bürgersteig angelehnt an billigen Garagenschiebentoren aus dünnem Metall. Touristengrüppchenmit einem Durchschnittsalter von 23 Jahren versperrten Straßenübergänge, weil sie sich nicht einig waren, wo jetzt genau das Restaurant war, welches für 16,95 $ eine handgroße Schüssel der veganen Ananas-Poke-Bowl auf Quinoa-Basis servieren würde. Ich überholte diese und viele weitere Gruppen mit meinem zielgerichteten Tempo. Vieles, was ich gerne genauer gesehen hätte, wurde nach wenigen Minuten von Menschen verdeckt. Eine ruhige Ecke fand ich auf einer der befahrensten Straßen Manhattans, ich blieb stehen, drehte mich zur Seite und genoss für eine Weile die Klänge der mir unbekannten Motoren von Autoherstellern wie Suburban, Chevrolet oder GMC. Belohnt für das Filtern dieser Lautstärke wurde ich mit einer Ampel, die mir die Sicht auf einen Wolkenkratzer im Süden versperrte.
„Here Sir! You look like you need some water.”
Verträumt schaute ich gar nicht mehr auf das Display meiner Kamera, sondern ließ mir kurz Zeit, um die letzten 18 Stunden Revue passieren zu lassen. #68, darauf war ich vorbereit, das war meine Nummer, damit war ich berechtigt, mein bestelltes Essen einzufordern. Nur der englische Ruf von Sixty Eight! Number Sixty Eight sollte mich zum Erwecken bewegen. Erst nachdem ich den, gerade auf der Theke abgestellten, Becher voll mit Wasser sah, fiel mir auf, wie müde sich meine Augen anfühlten. Mit solch einer netten Geste konfrontiert zu werden, war ich nicht vorbereit gewesen. Eine Art der Bewunderung ging hinüber zu dem Afroamerikaner, der mit seiner stark beschmutzten Schürze die Burger briet, einen Milkshake zubereitete und gleichzeitig mit freundlich und professionellem Ton seine Kollegen anwies, dieses und jenes zu tun. Und das machte er wahrscheinlich schon den ganzen Tag lang.
Es dämmerte schon. Im November bleiben in New York nur sechs Sonnenstunden zur Gestaltung der hellen Freizeit. Nehmen wir mal an, man wohnt in New York, genauer gesagt am Bryant Park, steigt an einem 16. November um 9 Uhr morgens in die Metro. Man wechselt am Times Square auf die Linie 1 und fährt hoch bis zur 125 Street Station, um dort neun Stunden zu arbeiten. In der Mittagspause liest man ein Buch im Pausenraum und telefoniert noch ein wenig, während man auf den Martin Luther King Boulevard schaut. Und um 16:36 Ortszeit, während eines stressigen Telefongesprächs, war gerade der letzte Sonnenstrahl erloschen und man hat für diesen Tag keinen einzigen Sonnenstrahl auf die Haut abbekommen. Es war gar nicht so unwahrscheinlich, dass ich diesen Tag in einem Sonnen-Entzug verbracht habe. Wirklich sicher war ich mir da aber nicht.
Über 1200 .CR2-Dateien befanden sich schon auf der Speicherkarte meiner Kamera, meine Füße kribbelten. Wussten nicht mehr, ob ihnen nach dem 40° heißem Wasser noch zu schwitzen zumute ist oder ob die Erinnerung der kalten Winde vom Columbus Circle noch für Schmerzen sorgte. Nachts nahm die Stadt an Geschwindigkeit zu und wurde heller als am Tage, naiv hoffte ich auf das Gegenteil. Mein Rucksack wurde durch zwei Einkauf-Malls, die auf dem Weg lagen, schwerer und der Rahmen meiner VISA-Karte um eine eingeplante Summe belastet. Die einzig nicht eingeplante Ausgabe war eine Uber-Fahrt für 32,91 $ zum Hotel. Hätte ich mir nur einen Cinnamon Bun gegönnt, dann hätte ich wahrscheinlich ein wenig mehr Energie und auch Wärme für die fünf Meilen gehabt. 5 $ Cinnamon Bun und vielleicht noch ein warmer 8 $ Wrap, das macht insgesamt 13 $. Ach verdammt. Da hätte ich wirklich sparen können. Das erste kleine Manko von der Reise im kompletten Alleingang ließ sich erkennen. Und während ich im Bademantel eingehüllt im Bett lag, fiel mir gleich noch ein zweites auf. Eine gelangweilte Stimmung machte sich in mir breit. Das Erlebte auszusprechen und zu hören, was man vielleicht nicht gesehen hatte, fehlte komplett und sorgte für einen unausgeglichenen, unruhigen Schlaf.
18 Stunden und 15 Minuten bin ich schon in dieser Stadt. Unterwegs bin ich seit 23 Stunden. Meine Zeit in New York City läuft heute schon auf ihre Halbzeit zu. Dass ich froh darüber sein werde, wird mir immer wahrscheinlicher. Einen Bagel möchte ich zum Frühstück und lehne das Angebot auf dem Display im Fahrstuhl des Hotels, wo hübsch animiert „18 $ American-Breakfast“ steht, ab. Einen Bagel mit Cream und Ham sowie einen nur mit Cream bereitete man mir im vor der Reise rausgesuchten Bagelladen zu und ließ mich mit meiner Illusion „Das isst man hier so …“ den Laden verlassen. Am liebsten hätte ich erst noch eine Weile den New Yorkern beim Bestellen zugehört, um zu erfahren, wie man hier wirklich seinen Bagel isst. Der große mexikanische Bagel-Beschmierer hatte es aber irgendwie eilig und zog mich mit seiner direkten Frage förmlich zur Theke. Lecker war es gewesen, auch wenn nicht ganz authentisch, glaube ich.
Die Staton Island Ferry blieb vor ein paar Jahren aus und jetzt war der perfekte Zeitpunkt für eine kleine Bootstour. Mit einer zielstrebigen Neugierde suchte ich eine Möglichkeit, auf die äußeren Decks der Fähre zu kommen. Keine Chance. Der am Anfang doch recht aufdringliche ältere Mann mit weiten Klamotten und einem zu entspannten Unterkiefer, sodass die Deutlichkeit seiner Aussprache betroffen war, erzählte mir, dass in den Wintermonaten die Türen auf die äußeren Decks zubleiben. Er öffnete mir mit einem Vierkantschlüssel aus seiner Jackentasche das Fenster vor mir und ich strahlte innerlich, als ich die dadurch entstandenen Fotos betrachtete.
Die Straßen von Staten Island waren ruhig. Immer leerer wurden die Nebenstraßen, die von der Hauptstraße abzweigten. Nach nur 50 Minuten zu Fuß nahm ich die Fähre zurück nach Manhattan und nahm das One World Observatory, um weit nach oben zu kommen, und später ein Fahrrad, um die Brooklyn Bridge zu überfahren. Beides war gleichermaßen überfüllt mit Menschen, die international lesbare Symbole nicht erkennen können. Zum Glück war ich nach wenigen Minuten mit dem Fahrrad Richtung Coney Island erst einmal alleine. Das Fahrrad musste ich zurücklassen, da der Fahrradverleiher nicht daran dachte, dass jemand mit dem Fahrrad so weit fahren will, also stieg ich gezwungenermaßen in die Metro. Eine lange Zeit saß ich auch alleine in meinem Wagon. Fast eine Stunde brauchte ich, um den geschlossenen Freizeitpark zu erreichen. Schön sah er aus. Im Sommer würde man keine ruhige Minute haben und sich diese Stille wünschen. Jetzt fühlte es sich eigenartig falsch an, hier alleine herumzulungern. Ein riesiger Süßigkeiten-Laden auf der Stillwell Avenue hat noch geöffnet und sehnt sich nach den heißen Sommertagen. Ich auch. Meine Finger sind knallrot von der Kälte. Der rechte Zeigefinger verflucht seinen wichtigen Job, den Kameraauslöser drücken zu müssen.
Die Kamera ist schon pappensatt, aber mein Magen knurrt schon wieder. Zurück in Richtung Washington Street und ich hoffe darauf, an wärmeren Tagen hierher wiederzukommen, um vielleicht das eine oder andere Fahrgeschäft mit meinen Kindern auszuprobieren.
„Can you wait a second, sir?”
Na ja, eigentlich ungern. Nicht in dieser Situation. Eine mobile Hebebühne mit einer Fachkraft an Bord versuchte gerade, die Deckenlampe, die direkt vor dem Eingang einer mexikanischen Food-Kette hing, zu reparieren. Ich schätzte die Situation sehr sicher ein. Alle Einzelteile, die mich hätten treffen können, sahen von hier unten nicht überaus schwer aus, relativ unspektakulär. Aber nicht für das zweiköpfige Bodenpersonal, welches dafür sorgte, einen riesigen Sicherheitsbereich um den Kran aufzustellen, nur um uns ignorante hungrige Spaziergänger davon abzuhalten, sie und ihre Firma zu verklagen.
Dumbo, die gleichnamige Disney-Figur aus dem Jahre 1941, hat mit dem Ort in der Washington Street in Brooklyn rein gar nichts zu tun. Bei jeder Suchanfrage Best Instagrammable Spots New York taucht dieser kleine Punkt auf, fand ich später, total übermüdet, in meinem Hotelbett heraus. Einen mir unbekannten Foto-Spot für den nächsten Tag konnte ich durch meine Mitläufer-Suchanfrage dennoch finden. Jedenfalls ist die Plymouth Street Ecke Washington Street für jedes Auto fast unbenutzbar, selbst bei eisigem Wind hat das schönste und teuerste Auto keine Chance mehr gegen die wohlüberlegten, inszenierten Selbstdarstellungen jener Möchtegern-Models. Genau wie am Times Square ist hier am Dumbo der Blick auf die Manhattan Bridge und das Empire State Building mittlerweile nicht mehr die Hauptattraktion, sondern wohl das wilde, egoistische Treiben der Menschen.
„Stay in your fucking lanes!”
Waren nicht meine Worte, aber ich habe sie mehr als einmal an meine Stirnwand geschrien. Es war der schlechteste Zeitpunkt, mit den letzten Sonnenstrahlen und mit dem letzten Fahrrad über die Brooklyn Bridge zu fahren und zu hoffen, pünktlich und ohne Stress im Nacken zur Broadway Show zu gelangen. Die Stimmen – ein extrem wichtiges Werkzeug – von den genervten New Yorkern halfen und gaben mir eine freie Schneise auf dem blockierten Radweg. 2,50 $ und das Ticket zur Metro lag in der einen und das Ticket für To Kill A Mockingbird in der anderen Hand. Ganz anders als beim Buch oder der Film, fand ich mich sehr schwer in das Theaterstück hinein, ein paar Mal bin ich abgedriftet und in einer Position aufgewacht, wo selbst das Sitzen nicht angenehm gewesen sein kann. War es nach so einem Tag dennoch, vielleicht hätte ich den Tag über mehr Kohlenhydrate vertragen können oder wenigstens noch was zu Abend essen sollen.
Ausgeruht, ausgecheckt an einem Sonntagmorgen um 6 Uhr den Broadway entlangspazieren. Es gab nichts Schöneres. Noch nicht einmal die kleinen Straßenbagel-Verkäufer hatten ihre Metallboxen geöffnet. Die ersten Sonnenstrahlen streckten meinen Schatten fast ins Unendliche und ich hatte eine Tischreservierung für ein amerikanisches Diner. Die Reservierung war so unnötig wie der überpünktliche Online-Check-in für den Rückflug. Meine Bedienung mit der Baseball-Cap und dem Pferdeschwanz aus dem Hinterkopf hängend war nicht in der Position des Restaurant Manager, sondern nur eine normale Kellnerin. Dass sie trotzdem hier den Ton angab, war glaube ich nicht nur mir allein bewusst gewesen. Sie half mir, meine übermütige Bestellung zu reduzieren und, wenn ich darüber nachdenke, übrig gebliebenes Essen vor der Mülltonne zu bewahren. Nach zwei Gläsern Leitungswasser, einer Hot Chocolate, zwei Pancakes mit Rührei und zwei Scheiben French Toast garniert mit Marmelade und Quark hatte ich das dringende Bedürfnis zu laufen, um ein mögliches Erbrechen zu verhindern. Gestückelte Wortfetzen brachte ich nur noch als Danksagung an die nette Kellnerin über meine, noch mit Schokolade benetzten Lippen, als ich mich an meinen eigenen Essenresten verschluckte. Ein unangenehmer letzter Moment, den wir beide da hatten. Sie nahm es professionell und scherzte über meinen erröteten Kopf.
Gut investierte Dollar später ging es in den Countdown meiner letzten Ausgaben. Ich wollte noch ein spezielles Foto haben. Ein Blick von Osten nach Westen über die 42. Straße von der Tudor City Bridge, das Ergebnis meiner naiven Internetrecherche der letzten Nacht. Kein einziger Tourist hatte auf den schnell gefundenen Toplisten der New Yorker Fotospots so weit nach unten gescrollt, um diesen Spot anzusteuern. Die zahlreichen Treppen der Brücke waren fies, nach 71.900 angesammelten Schritten aus den letzten 50 Stunden schmerzten die Knie selbst beim Absteigen. Das Foto, welches vor wenigen Augenblicken nur in meinem Kopf existierte, hatte ich nun auf den Speicherblöcken meiner SD-Karte.
In den letzten Tagen wählte ich mein Essen auch unterbewusst nach Größe der enthaltenen Kalorien aus. Hinter jedem Gericht, Getränk oder Snack steht die Zahl, die einem im Kopf die Summe der heutigen Kalorien zusammenzählen lässt und einhämmert, doch etwas Leichtes zu bestellen. So blieb ich bei einem 30 Kalorien schweren Ingwer-Shot und einem 180 Kalorien starken Apple-Mint-Ginger-Smoothie. Funktionierendes Free-Wifi erlaubte mir eine finale Evaluation meiner Heimreise. 84,96 $ wollten mir die Reise zurück zum Flughafen ermöglichen und 5,95 $ gaben mir einen letzten amerikanischen Fast-Food-Ketten-Burger. Endlich. Das Flugzeug hebt ab.
55 Stunden und 35 Minuten in New York erschien 2019 im Books on Demand Verlag.
ISBN 9783750457034 © Nils Hünerfürst